Psychiatrie der Zukunft | AWO und Bezirkskliniken unterzeichnen starten für Modellprojekt

In Deutschland ist ein Modellprojekt angelaufen, das den Titel „Gemeinpsychiatrische Basisversorgung“ (GBV) trägt. Zielgruppe sind schwer psychisch erkrankte Menschen mit Einschränkungen der Teilhabe, die bislang häufig durch die Maschen der Regelversorgung fallen. Für sie wird modellhaft in zwölf Regionen eine ambulant-aufsuchende psychosoziale Gesamtversorgung aufgebaut, die alle individuell erforderlichen Hilfen miteinander vernetzen soll.  Zwei dieser Regionen sind Augsburg und Neu-Ulm. Das Projekt wird mit etwa zwölf Millionen Euro aus dem Innovationsfonds zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Deutschland gefördert.

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Sie unterstützen ein Modellprojekt zur „Psychiatrie der Zukunft“: (von links) Thomas Düll (Vorstandsvorsitzender Bezirkskliniken Schwaben), Winfried Eberhardinger (Stellvertreter), Prof. Dr. Alkomiet Hasan (Ärztlicher Direktor Bezirkskrankenhaus Augsburg), Martin Zepf (Gesamtleiter Vincentro), Werner Weishaupt (Geschäftsführer Arbeiterwohlfahrt Augsburg). Bild: Georg Schalk

Sowohl in Augsburg als auch in Neu-Ulm ist die INTEGRE GmbH daran beteiligt. Diese „Gesellschaft für Kooperation und Vernetzung im Sozial- und Gesundheitswesen mbH“ ist ein gemeinsames Unternehmen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Augsburg und der Bezirksklinken Schwaben. Die Bezirkskliniken unterstützen die Integre bei dem Projekt „Psychiatrie der Zukunft – Hilfen wie aus einer Hand“ inhaltlich und personell. Dazu wurde unlängst ein Kooperationsvertrag unterzeichnet. Das Vorhaben wird wissenschaftlich begleitet. Verantwortlich für die bundesweit randomisiert-kontrollierte Studie ist Prof. Dr. Kilian von der Universität Ulm/Bezirkskrankenhaus (BKH) Günzburg. Zur Erläuterung: Eine randomisierte kontrollierte Studie ist in der medizinischen Forschung das nachgewiesen beste Studiendesign, um bei einer eindeutigen Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und die Wirksamkeit zu belegen.

INTEGRE betreibt drei Einrichtungen mit den Namen „Vincentro“: neben Landsberg/Lech in Augsburg in der Frölichstraße und in Neu-UIm in der Eckstraße. Gesamtleiter dieser Vincentro´s  ist Martin Zepf. Geschäftsführer von Integre ist Werner Weishaupt, zugleich Sprecher der Geschäftsführung der gemeinnützigen AWO Betriebsträger und Projektentwicklungsgesellschaft in Augsburg.

Wie Weishaupt und Zepf erläutern, ist es das Ziel von INTEGRE, 130 Studienteilnehmer*innen zu akquirieren. Das soll zum einen durch direkte Zuweisung der Krankenkassen gelingen (beteiligt sind unter anderem die AOK, die KKH, die TK sowie 15 Betriebskrankenkassen). Zum anderen können auch niedergelassene Ärzte, das Jobcenter oder jeder andere Akteur im sozialpsychiatrischen Netzwerk Kandidaten benennen. „Wir vereinbaren dann einen Termin mit dem möglichen Studienteilnehmer, falls dieser einverstanden ist, und führen ein Assessment mit ihm durch“, sagt Zepf. In diesem Gespräch soll der Gesundheitszustand und den Hilfebedarf des Patienten systematisch erfasst und bewertet werden.

Das Team um Prof. Kilian entscheidet dann, welcher Proband die Zugangskriterien für die Studie erfüllt. Es werden dem Zufallsprinzip folgend zwei Gruppen gebildet: In Augsburg und Neu-Ulm sollen 65 Menschen in einer Interventionsgruppe von INTEGRE versorgt, weitere 65 kommen in eine Kontrollgruppe und erhalten weiterhin die Regelversorgung. „Am Ende wird verglichen und bundesweit ein Ergebnis ermittelt“, berichtet Weishaupt. Die Studie endet im Juni 2023 und soll nicht zuletzt den volkswirtschaftlichen Nutzen einer bedarfsgerechten, vernetzten und systemisch arbeitenden psychiatrischen Versorgung unterstreichen. Insgesamt 1000 Frauen und Männer sollen deutschlandweit daran teilnehmen.

INTEGRE bietet in der Region in seinen Vincentro’s ein sehr niederschwelliges Angebot an. Dort gibt es nicht nur „Rückzugsräume“, die einer einfachen Pensionsunterkunft gleichen und die Hilfesuchende ein paar Tage bewohnen können. Hier finden die Klienten auch ihre jeweilige persönliche Bezugsperson vor, die sich gemeinsam mit ihnen um alle therapeutischen Leistungen bzw. sonstigen Hilfen kümmert. Zudem wird ihnen eine 24-Stunden-Erreichbarkeit zugesichert. „Der Fokus liegt auf der Arbeit im System des Klienten. Es werden alle Fachkräfte, die mit dieser Person arbeiten, einbezogen“, führt Martin Zepf aus. 

Die gemeindepsychiatrische Basisversorgung (GBV) orientiert sich an international bereits etablierten Versorgungsmodellen. Die dortigen Erfahrungen lassen erwarten, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen durch die GBV effektiver und effizienter versorgt werden können. Ziele sind unter anderem der Ausbau der intensiv-ambulanten Versorgungsformen, die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Betroffenen und eine höhere Versorgungszufriedenheit sowohl der Patienten als auch ihrer Angehörigen. „Leider ist es so, dass Leistungserbringer nicht immer und überall Hand in Hand arbeiten, sondern manchmal auch nebeneinander her“, sagt Werner Weishaupt. Im Modellprojekt sollen die Grenzen der Sozialgesetzbücher keine Rolle mehr spielen. Ambulante, teilstationäre und stationäre Angebote der Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Teilhabeförderung sollen gleichermaßen bedarfsgerecht einbezogen werden.

Thomas Düll, Vorstandsvorsitzender der Bezirkskliniken Schwaben, und der Ärztliche Direktor des BKH Augsburg, Prof. Dr. Alkomiet Hasan, stehen hinter der Studie und wollen das Projekt tatkräftig unterstützen. „Wir würden es gern sehen, wenn es gelänge, den Druck auf Kliniken wie die unsere abzumildern. Und wir wären froh, wenn es noch mehr ambulante Versorgungsangebote in multiprofessioneller Zusammenarbeit geben würde, sodass die Klinik nicht so massiv beansprucht wird“, sagt Prof. Hasan.