Verschwörungstheorien gefährden Gesellschaft – Augsburger Wissenschaftsphilosoph warnt vor Rückfall in vormodernes Zeitalter

Dr. Jens Soentgen, Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, sieht angesichts der Verschwörungstheorien zum Corona-Virus massive Gefahren für Wissenschaft, Gesellschaft und Demokratie. Der Chemiker und Umweltphilosoph erforschte bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel, warum die Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen einen derartigen Auftrieb erfährt.

Alternative Media 5277726 1920
Symbolbild

Kursierende Verschwörungstheorien überzeugen

Das Corona-Virus wurde von Bill Gates in die Welt gesetzt, weil der uns mit Mikrochips impfen und so unter Kontrolle bekommen möchte. Geheime Mächte bauschen die Gefährlichkeit von Covid-19 auf, um eine autoritäre Weltordnung zu schaffen. Nicht das Virus ist schuld an den Todesfällen, sondern die Strahlung der 5G-Sendemasten. Das sind drei der zahlreichen Verschwörungstheorien, die momentan kursieren. Nicht alle sind so abenteuerlich wie diese. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Covid-19 ignorieren oder bestreiten – und damit oft erstaunlich viele Menschen überzeugen.

Parallelen zur Klimawandel-Diskussion

Dr. Jens Soentgen, Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, ist davon nicht weiter überrascht. Ähnliche Beobachtungen haben seine Kollegin Prof. Dr. Helena Bilandzic, Inhaberin des Lehrstuhls für die Kommunikationswissenschaft-Rezeption und Wirkung, und er bereits bei den Diskussionen um den Klimawandel gemacht. „Wir haben am Wissenschaftszentrum Umwelt eine riesige Zahl skeptischer Veröffentlichungen zu dieser Thematik gesammelt und ausgewertet“, sagt der Privatdozent. „Die derzeitigen Verschwörungstheorien über Covid-19 müssen in einen größeren Kontext gestellt werden. Wir stellen zunehmend fest, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur in den USA, sondern auch bei uns in Frage gestellt und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verleumdet werden.“

Darüber hinaus bezweifeln Anhängerinnen und Anhänger solcher Verschwörungstheorien regelmäßig auch die Motivation, aus der heraus sich Forscherinnen und Forscher mit diesen angeblichen Gefahren beschäftigen: Weil diese sich in eine Idee verrannt haben und nun nicht das Rückgrat haben, sich zu korrigieren. Weil sie mit ihrer Forschung jede Menge Geld verdienen. Weil sie Macht und Einfluss gewinnen. Weil sie eine neue Gesellschaftsordnung herstellen wollen, und zwar mit Hilfe korrupter Politiker, die die Bürgerrechte einschränken und eine Diktatur errichten möchten.

„Auch jetzt in der Pandemie beobachten wir diese Mechanismen“, erklärt Soentgen. „Der Staat hat schnell und mit Wucht auf die Ausbreitung des Erregers reagiert – mit dem Erfolg, dass in Deutschland die Katastrophe ausgeblieben ist.“ Paradoxerweise sei es gerade dieser Erfolg, der viele Menschen in ihren Zweifeln noch bestärke. Sie halten die Warnungen der Virologen für Panikmache, die Antwort der Regierung für völlig überzogen – und wittern dahinter unlautere Motive. „Anhänger von Verschwörungstheorien finden dadurch eine neue Rolle als Aufklärer, Befreier oder gar Märtyrer“, betont der Augsburger Wissenschaftler. Er hält es für essentiell, diese Entwicklung zu verstehen, um eine Antwort auf sie zu finden. „Dazu halte ich es für wichtig, die Argumente der Klimaskeptiker und der Corona-Verschwörungstheoretiker vergleichend zu analysieren.“

Differenzierte Sichtweisen und Balance sind wichtig

Dabei plädiert er für eine differenzierte Sichtweise auf die Wissenschaftskritiker. „Man kann ihnen nicht einfach pauschal das Aluhütchen überstülpen und sagen: Ihr seid vormodern“, sagt er. „Die Kritik an der Zweckmäßigkeit und an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen – jetzt in der Corona-Krise und beim Kampf gegen den Klimawandel – ist legitim. Wo aber die Forschung pauschal verdächtigt und verleumdet wird, da müssen wir uns zur Wehr setzen.“

Es wird also auf einen balancierten Umgang mit der Kritik ankommen, denn auch von Seiten der Wissenschaft dürfen keine Verleumdungen und Pauschalisierungen kommen: „Als Kritiker bestimmter Maßnahmen gegen den Klimawandel ist man nicht gleich ein Verschwörungstheoretiker“, sagt der Philosoph. Wer anderen die Legitimität seiner Meinung abspreche, verbaue sich die Chance, sie mit seinen Argumenten zu erreichen.

Kritik ist essentiell

Die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien einfach zu ignorieren, hielte er jedoch für grundlegend falsch: „Unsere Demokratie fußt darauf, dass die Politik ihre Entscheidungen an rationalen Kriterien ausrichtet“, betont er. „Kritik an Wissenschaft und ihren Erkenntnissen ist dabei nicht nur erlaubt, sondern sogar essentiell – sie ist ein Motor, der Forscherinnen und Forscher zu neuen Erkenntnissen antreibt. Wenn diese Kritik dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aber insgesamt die Legitimation abspricht, wenn sie Wissenschaftler pauschal unter Verdacht stellt, wird sie zu einer elementaren Bedrohung für unsere Gesellschaft und Demokratie. Das Unternehmen der modernen Wissenschaft steht heute unter Beschuss.“