Augsburger Politologin Roos erhält Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages

Die Augsburger Politologin Dr. Mechthild Roos wurde für ihre Abhandlung zum Thema „The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power“ mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags geehrt. Der Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags würdigt herausragende wissenschaftliche Arbeiten zum Parlamentarismus und wurde kürzlich in Berlin durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas verliehen.

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Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (links) und die Preisträgerin Dr. Mechthild Roos Stella von Saldern / Bundestag
Die Augsburger Politologin Dr. Mechthild Roos wurde mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags ausgezeichnet. Der Preis wurde 1989 anlässlich des 40-jährigen Bestehens des deutschen Parlaments ins Leben gerufen und wird seit 1997 alle zwei Jahre verliehen. Der Preis würdigt exzellente wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Parlamentarismus auseinandersetzen und zu einem vertieften Verständnis der parlamentarischen Praxis beitragen. Die Preisträgerinnen und Preisträger werden von einer unabhängigen Jury bestehend aus neun Professorinnen und Professoren des Staatsrechts, der Geschichtswissenschaft sowie der Politikwissenschaft ermittelt. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Neben Dr. Mechthild Roos wurde in Berlin auch der Historiker und Autor Dr. Oliver Haardt mit der Auszeichnung geehrt.
 
Roos ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Politikwissenschaft und Vergleichende Systemlehre von Prof. Dr. Peter A. Kraus an der Universität Augsburg. Sie studierte germanistische Sprach- und Kulturwissenschaft, Geschichte und europäische Zeitgeschichte in Dresden und Luxemburg, wo sie 2018  mit Bestnote ihren Doktor in Politikwissenschaft abschloss. Es folgten Forschungsprojekte unter anderem an den Universitäten Glasgow und Canterbury, sowie am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt.

Was macht ein Parlament zum Parlament?

Mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags wird nun das Buch Titel The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power (2021) von Mechthild Roos gewürdigt, das auf ihrer Doktorarbeit beruht. Ihrer Abhandlung stellt Roos gedanklich die Frage voran: Was macht ein Parlament zum Parlament? „Diese Frage kann man in Bezug auf das Europäische Parlament nur dann schlüssig beantworten, wenn man sich auch mit den Anfängen des Europäischen Parlaments befasst, also mit der Zeit von 1952 bis zu den ersten Direktwahlen im Jahr 1979“, erklärt Roos, die mit diesem Ansatz in eine Forschungslücke stößt. Es gibt zwar inzwischen eine Vielzahl an Abhandlungen über das Europäische Parlament, aber kaum eine dieser Arbeiten befasst sich dabei auch mit der Zeit vor 1979. Dadurch kommt die bestehende Forschungsliteratur häufig zu dem Fehlschluss, dass die in der Anfangszeit vertraglich stark begrenzten Kompetenzen des Europäischen Parlaments mit dessen politischer Macht- und Einflusslosigkeit gleichgesetzt werden. Roos widerlegt diesen Rückschluss in ihrer Arbeit und zeigt, dass das Europäische Parlament trotz begrenzter Kompetenzen schon vor 1979 politischen und gesetzgeberischen Einfluss entwickelt hat. Dies sei vor allem auf das starke Engagement der frühen Abgeordneten zurückzuführen. Diese frühen Abgeordneten setzten sich persönlich für die Umsetzung des Konzepts eines gemeinsamen Europas ein, und das trotz ihrer Zweifachbelastung, die sich daraus ergab, dass die Abgeordneten damals sowohl ein Mandat im Europäischen Parlament als auch im Parlament ihres jeweiligen Heimatstaates inne hatten. „Nur wenn man weiß und versteht, wie die politische Praxis in den Anfangszeiten des Europäischen Parlament funktioniert hat, nämlich häufig durch die Nutzung informeller Kompetenzen und Ressourcen, kann man auch die späteren Kompetenzerweiterungen des Europäischen Parlaments vollumfänglich verstehen“, folgert die Wissenschaftlerin.

Das Europäische Parlament als Vertreterin der Bürgerinnen und Bürger

Das empirische Kernstück von Mechthild Roos Abhandlung bilden vier Fallstudien aus unterschiedlichen Bereichen der frühen europäischen Sozialpolitik: Arbeitnehmerfreizügigkeit, Gleichstellung von Frauen und Männern, Kinder- und Jugendpolitik sowie der Europäische Sozialfond. In diesem Zusammenhang wertete die Wissenschaftlerin einen Korpus von 4.000 historischen Dokumenten (Verträge und Parlamentaria) aus und führte zudem 25 Experteninterviews überwiegend mit Abgeordneten aus der Zeit vor 1979. „Ich habe einen sozialpolitischen Ansatz gewählt, weil mich besonders interessiert, wie sich das Europäische Parlament als Institution und Interessenvertreterin für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union etablieren konnte. Der Fokus meiner Arbeit liegt also auf der direkten Verbindung von Gemeinschaftspolitik und Alltagsleben und beinhaltet somit auch eine starke ideelle Dimension“, erklärt Roos.
In der Begründung der Jury heißt es dementsprechend: „Mechthild Roos‘ Arbeit trägt in beachtlichem Maße zur Erforschung des Europäischen Parlaments bei. Sie liefert dabei neue Erkenntnisse zur Entwicklungslogik des europäischen Parlamentarismus und zum Prozess der Institutionalisierung von Parlamenten und zeichnet zudem ein spannendes Bild eines lebendigen Parlamentarismus auf der europäischen Ebene.“ Überdies sei die Arbeit über die Politikwissenschaft hinaus in höchstem Maße anschlussfähig für andere Fachdisziplinen, etwa für Zeitgeschichte, Rechtswissenschaften und Genderstudies.